„Bitte fassen Sie alles an!“ Für eine Ausstellung eine unübliche Aufforderung, anders als für die im Lindekeller präsentierte Schau „Wohnungen, Wohnungen, Wohnungen! Wohnungsbau in Bayern 1918 – 2018“: Kommoden und Wandschränke lassen sich aufziehen, Fenster öffnen – und anhand filmischer Dokumente wird der jeweilige Zeitabschnitt zusätzlich lebendig. Am Freitag, 9. August 2019, wurde dieser spannende Streifzug durch die Geschichte von Bürgermeisterin Eva Bönig eröffnet, der mehr weit mehr bietet als einen Blick in die Vergangenheit: Die Ausstellung leistet auch einen Beitrag zur aktuellen Debatte.

Die anlässlich des Jubiläumsjahres 2018 „Wir feiern Bayern“ konzipierte Wanderausstellung machte dank der Anregung des Vereins architektur aktuell und engagierter Unterstützung von Stadtbaumeisterin Barbara Schelle sechs Wochen lang Station in Freising. Man habe zu dem Jubiläum „etwas Bleibendes“ schaffen wollen, sagte Ministerialrätin Karin Sandeck bei der Vernissage – und habe sich dem „Megathema Wohnungsbau“ angenommen. Heute müssten die Städte und der Staat angesichts knappen und teuren Baulands wieder „gemeinsam energisch gegensteuern“, falle es doch sogar Normalverdiener*innen schwer, „passende Wohnungen zu finden, zu bezahlen oder zu finanzieren“, wusste die Vertreterin des Bayerischen Bauministeriums. Wie vor 100 Jahren gehörten Investitionen in den öffentlichen Wohnungsbau zu den wichtigsten Instrumentarien – der Freistaat leiste dazu einen Anschub in Höhe von 886 Millionen Euro in diesem Jahr.

Freising ist aktiv

Bürgermeisterin Bönig hatte in ihrer Begrüßung einerseits Wohnen „als Grundbedürfnis“ und „Grundrecht“ charakterisiert, andererseits auf den Mangel an vor allem bezahlbarem Wohnraum in Freising hingewiesen, hervorgerufen durch den enormen Siedlungsdruck in der Boomregion München mit steigender Bevölkerungszahl und eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten durch Flughafen und Forst. Daher komme der Nachverdichtung in Freising hohe Bedeutung zu. „Freisinger Wohnungsbau der Zukunft muss sozial sein, es muss gut gestaltet und vor allem bezahlbar sein“, forderte Bönig. Die Stadt sei selber und mit ihren Wohnbaugesellschaften sehr aktiv, betonte die Bürgermeisterin und verwies auf das Projekt an der Katharina-Mair-Straße: Mit staatlicher Förderung würden gut 25 Millionen Euro für 115 moderne Mehrgenerationen-Wohnungen investiert.

Soziale Wohnungspolitik

Die Verantwortung der Politik thematisierte auch Hilde Strobl, Kuratorin der vom Architekturmuseum der TU München konzipierten Ausstellung. Die Wohnungsfrage werde durch die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank vom Kapitalmarkt bestimmt: „Der freie Markt kann die Wohnungsfrage aber nicht klären“, sie müsse von der Politik in die Hand genommen werden. Als nach dem Ersten Weltkrieg katastrophale Verhältnisse herrschten, sei das Recht auf eine Wohnung erstmals Bestandteil der Weimarer Verfassung geworden. Mit der staatlichen Boden- und Wohnungsreform habe man seinerzeit „den Grundstein für eine soziale Wohnungspolitik gelegt“. Ein Schwerpunkt der Ausstellung sei dem sozialen, öffentlich geförderten Wohnungsbau gewidmet.

Hilde Strobl sprach in ihrer Einführungsrede die wichtigsten Entwicklungsschritte seit 1918 an:

  • Nach dem Ersten Weltkrieg Gründung erster Wohnungsbauunternehmen in den Städten, Anstieg der Genossenschaften, Einführung einer Hauszinssteuer, die in den Neubau floss; Schaffung von Klein- und Kleinstwohnungen, Rationalisierung von Grundrissen;
  • während der NS-Zeit Bau weitflächiger Kleinstsiedlungen;
  • Mangelverwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg;
  • 1. bundesweites Wohnungsbaugesetz 1950, das mit öffentlichen Mitteln den sozialen und vor allem den Mietwohnungsbau ankurbelte, bei dem einfache und mehrgeschossige Zeilenbauten entstanden;
  • Errichtung von Großsiedlungen und Wohnhochhäusern Ender der 1950-er Jahre mit einer städtischen Infrastruktur für die neuen Quartiere;
  • Bis dahin vernachlässigte Sanierung und Modernisierung wurde in den 1970-er Jahren vorangetrieben, Altstädte wurden – bis heute – zu attraktiven Wohnstätten;
  • ab den 1990-er Jahren spielten Themen wie Mehrgenerationenwohnen, altersgerechtes Wohnen, Nachverdichtung, Einsatz nachhaltiger Baustoffe zunehmend eine Rolle.

Geändert hätten sich in den vergangenen 100 Jahren auch Wohnungsstruktur und –größen, schilderte die Kuratorin. Diese seien beeinflusst von sich wandelnden Ansprüchen der Bewohner*innen und der Bewohnerstuktur (kleinere Familien, Trend zum Einpersonenhaushalt, ältere Bewohnerschaft).

Sieben Kapiel - sieben Zimmer

All diese und noch viel mehr interessante Aspekte illustriert die Ausstellung. Sieben, chronologisch gegliederte Kapitel zeigen die Geschichte des Wohnungsbaus auf, wobei jedes Kapitel wie ein Zimmer gestaltet und im Stile des jeweiligen Zeitabschnitts ausgestattet ist. Ergänzend werden auf den „schwarzen Rückseiten“ der Stellwände Zahlen und Statistiken über die Veränderung der Bevölkerung oder im Wohnungsbau präsentiert. Auf einer Wand können die Gäste unter dem Motto „…und wie wohne ich?“ ihre eigene Wohnsituation bestimmen und mit den Teilnehmer*innen der Umfrage vergleichen.


Geschichte des sozialen Wohnungsbaus in Freising

Das war spannend: Bürgermeisterin Eva Bönig erzählte in ihrer Ansprache auch von der Entwicklung des sozialen Wohnungsbaus in Freising, der auf das 16. bis 18. Jahrhundert zurückgeht: Um für ärmere Bewohner*innen Wohnraum zu schaffen, ermöglichte die Stadt damals auf ihrem Grund eine Bebauung entlang der nordseitigen Stadtmauer (innen). So verschwand über mehrere Jahrhunderte nach und nach die hohe Wehrmauer – das letzte freie Stück unterhalb des Bürgerturms wurde in den 1830-er Jahren mit Häusern bebaut. „Von einer Wohngegend für sozial schwächer gestellte Personen ist allerdings schon lange nichts mehr zu sehen: In den vergangenen Jahrzehnten hat sich der Graben auf seinen 1,2 Kilometern Länge zu einer begehrten Wohnlage entwickelt“, schilderte Bönig.

Eine verwandte Form des sozialen Wohnungsbaus wurde in Freising in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts realisiert: das genossenschaftliche Wohnen. Zu den frühen Beispielen gehört die Goldberg-Siedlung, deren Planung 1919 begann. Zwei Genossenschaften schufen für ihre Mitglieder, die zugleich Anteilseigner*innen und Mieter*innen waren, kostengünstig Wohnraum. Beeinflusst von der Gartenstadt-Bewegung Englands sollten sich die Arbeiter*innen und Angestellte mit niedrigem Einkommen auch selbst versorgen können, was am Goldberg mit den teils weitläufigen Gärten ermöglicht wurde. In anderen Teilen Freisings wurde bis in die 1960-er Jahre hinein das genossenschaftliche Baumodell weiterverfolgt, so etwa im Freisinger Norden durch die Erzdiözese München und Freising.

Nach dem zweiten Weltkrieg bestimmte auch in Freising der soziale Wohnungsbau die stadtpolitische Agenda: Mehrere tausend Flüchtlinge und Vertriebene mussten nach und nach untergebracht werden. Bis Ende der 1950-er Jahre gehörten Notunterkünfte in Baracken zum Stadtbild, so zum Beispiel die Barackensiedlung neben dem früheren städtischen Schlachthof an de Dr.-von-Daller-Straße (heute Parkhaus). Um die soziale Not zu lindern, wurde an vielen Stellen der Stadt günstiger Wohnraum geschaffen, vor allem auf dem Lankesberg entlang der Asamstraße und entlang der Rotkreuzstraße.

Später, ab den 1970-er Jahren, wurde sozialer Wohnungsbau an verschiedenen Standorten und insbesondere in Lerchenfeld umgesetzt. Heute hat die Stadt Freising das Belegungsrecht für insgesamt 1118 öffentlich geförderte Wohnungen.


Aus der Geschichte lernen

Über die Ausstellung 100 Jahre Wohnungsbau im Freising

Steigende Mietpreise, Wohnungsmangel und die Notwendigkeit, dass von öffentlicher Seite der Wohnungsbau angekurbelt und finanziell gefördert wird: Kaum ein anderes Thema wird aktuell so intensiv diskutiert. Das gilt für Freising, das gilt in Bayern und bundesweit. Wie wir wohnen, spiegelt unsere Lebensverhältnisse wider. Das zeigte sehr anschaulich die Ausstellung „Wohnungen, Wohnungen, Wohnungen! Wohnungsbau in Bayern 1918 | 2018“, die von 9. August bis 15. September 2019 im Lindenkeller gezeigt wurde. Zu sehen waren Beispiele geförderter Wohnbauprojekte aus 100 Jahren – und das Publikum war sogar eingeladen, sich an einer Umfrage zur Wohnungssituation zu beteiligen.

Recht auf Wohnen

Die Ausstellung aus Anlass des Jubiläumsjahres 2018 „Wir feiern Bayern“ illustriert die Geschichte des Wohnungsbaus von den Anfängen erster staatlicher Initiativen zur Wohnungspolitik nach dem Ersten Weltkrieg bis zu gegenwärtigen Aufgaben und Förderkonzepten. Den Grundstein für eine soziale Wohnungspolitik legte das in der Weimarer Verfassung 1919 verankerte Recht auf Wohnen. Bis heute beeinflusst dieses Recht den geförderten Wohnungsbau und damit die Wohnungsstruktur von Städten und Gemeinden.

Sieben Stationen mit 40 Beispielen

„Geschichte wiederholt sich nicht, aber Faktoren wie starker Wohnungsbedarf, politische Kurswechsel, Zuwanderungs- und Flüchtlingsbewegungen, finanzielle Einschränkungen oder wirtschaftliche Aufschwünge“, weiß Hilde Strobl, die Kuratorin der Ausstellung. In chronologischer Abfolge werden über vierzig Beispiele für architektonische Lösungen der Wohnungsfrage dargestellt, die einen historischen Rückblick auf die baulichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Freistaats geben.

Schwerpunkt sozialer Wohnungsbau

Einen besonderen Schwerpunkt bilden in der Schau die Bau- und Siedlungsprogramme – insbesondere zur Entwicklung des sozialen und geförderten Wohnungsbaus im Freistaat – sowie die Schaffung von kostengünstigen Wohnungen für eine breite Bevölkerungsschicht. Die Darstellung der vielfältigen Bautypen reicht vom Eigenheim über die Kleinsiedlung und den mehrgeschossigen Zeilenbau bis zur Großsiedlung.

Dabei finden auch jene übergreifenden Aspekte Beachtung,die den Wohnungsbau in den unterschiedlichen Zeiten maßgeblich beeinflusst haben: Gesetzesänderungen und politische Kurswechsel, Kriegszerstörungen und Wohnungsnöte, Zuwanderungsbewegungen und tiefgreifende gesellschaftliche Entwicklungen. Ebenso werden Veränderungen in der Mobilität, der Wohnungsausstattung und den Fertigungsweisen im Wohnungsbau betrachtet. All diese Themen bilden in der Ausstellung anhand exemplarischer Zeitschienen den kulturgeschichtlichen Kontext. Ziel ist es, die wechselhafte Geschichte des Wohnungsbaus in unterschiedlichen Facetten und Perspektiven sichtbar zu machen.

Sinnliche Einblicke

Eine Ausstellung über 100 Jahre Wohnungsbau in Bayern – klingt vielleicht im ersten Moment anstrengend oder nur für ein Fachpublikum geeignet. Doch diese Präsentation ist ausgesprochen spannend und schafft es, Geschichten zu erzählen. Viele Fotografien und Originalmodelle eröffnen einen lebendigen Zugang zu den Epochen, von der unbeheizten Kleinstwohnung nach dem Ersten Weltkrieg bis zum durchgestylten Wohnzimmer heutiger Tage. Auch informative Grafiken und Videos bereichern die architektonische Zeitreise.

Eine Station lädt die Besucher*innen ein, sich an einer Umfrage zur Wohnungssituation zu beteiligen.

Ausstellung machte Station in Freising

Nach dem Auftakt in der Pinakothek der Moderne konnte die Präsentation bereits an zahlreichen Orten in Bayern gezeigt werden, bis sie nun auch in Freising im Lindenkeller Oberhaus – auf Anregung des Vereins Architektur Aktuell und mit großzügiger Unterstützung des Bauministeriums – zu sehen war. Eröffnet wurde die Ausstellung am 9. August, eine feierliche Finissage fand am 13. September statt.

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